Romantik: das neue Paradigma
Ein einschneidender Wandel in Verstehen und Gestalten der Wirklichkeit vollzieht sich in der deutschen Literatur – darüber hinaus in natürlich auch benachbarten Feldern der Kultur wie z. B. der Malerei – kurz vor Ende des 18. Jahrhunderts, zum Teil allerdings später oder auch zeitgleich mit Strömungen, denen die Romantik ihr anders-sein-Wollen entgegenhält.
Der gravitätische Takt der Aufklärung (trotz alles Komischen, was die Aufklärung auch anzubieten hat, so etwa in Lessings „Nathan“) gerät ins Wanken, der erzieherische Ernst der Aufklärer ins Rutschen - vollzieht sich doch nun ein prinzipieller Mentalitätswechsel. Das Ernste bleibt nicht mehr ernst, das Große nicht groß (um es in Anlehnung an ein Gedicht Brechts zu sagen), aus dem Kleinen wird das Große: Alles wird durcheinandergewirbelt im Spiel dessen, was die Romantik vor allem auszeichnet: der Ironie. Die Nichtidentität dessen mit dem, was zu sagen vorgegeben wird, das – so heißt es in einer Schrift Tiecks- Gewöhnliche fremd machen. Ironie ist als Zauberwort dieser Zauberwelt Romantik, und der Herrschaftsbereich dieses Denk – und Darstellungsmittels geht natürlich weit über den deutschen Sprachraum hinaus, Ironie als Ingredienz des Romantischen findet man in zahlreichen europäischen Kulturen und Sprachen; man schlage beispielsweise nur einmal den Roman Eugen Onegin des romantischen Realisten und realistischen Romantikers Aleksandr Puschkin (1799 – 1837) auf, dessen genial witziges Spiel auch mit den Formen des Dichtens und Gestaltens in Tschaikowkijs Opernadaption zum sentimentalen Ernst wird.
Spiel ist das Gesetz der Epoche, Spiel mit Worten, Wertungen, Einschätzungen, Sicherheiten; Spiel mit den vertrauten ästhetischen Regeln z. B. auch auf der Theaterbühne.
Innovation, Revolution auf der Bühne gab es natürlich auch schon vorher, man denke an Shakespeare oder daran, wie die Shakespeare-Rezeption durch die Stürmer und Dränger in Deutschland die wohlgeordneten Bahnen durcheinanderbrachte.
Ludwig Tieck: der spielende Dichter
Dies geschieht beim Romantiker und Spieler Tieck nun, nach den abgemessenen und ernsten Schritten der Dramatik der Weimarer Klassik, erneut, unter neuen Vorzeichen, folgt doch auch der literarische Kanon immer den Gesetzen des Wandelns, der Periodisierung. Der Aufklärung folgt der Sturm und Drang, diesem die Klassik, dieser wiederum die Romantik.
Nun also Tieck. Nun also ein gestiefelter Kater als Held auf einer Bühne, die bis dahin den großen Tragöden Iphigenie, Thoas, Maria Stuart oder Wallenstein gehörte. Nun also als Held ein sprechender Kater, schon das eine Provokation.
Aber die Kater-Geschichte bildet nur den Rahmen des Skurrilen, Schrägen. Tieck versetzt uns in eine Situation, in der wir nicht (nur) der Katerhandlung zusehen, sondern in der wir uns anschauen, wie Zuschauer auf dem Theater die Katerhandlung ansehen. Theater im Theater mithin. Es sind ihrer fünf, diese Zuschauer, die ihren Platz nicht vor der Bühne - wie Sie als unsere realen Zuschauer – haben, sondern dahinter, denen Sie also in die Gesichter blicken können, ihren Kommentaren zuhören können, ihren Ausrufen, Eitelkeiten, Unflätigkeiten. Die Erwartungen an das Theater artikulieren, die von Tieck nun satirisch verspottet werden. Mitunter bedarf es des Kunstgriffs, dass unsere Rollenträger wie Kater oder Hanswurst sich an beide Publikumsreihen zu wenden haben, mal der einen, mal der anderen der Rücken zuwendend.
Kein Melodram, keine Ausstattungstragödie erwartet unsere fünf Theaterbesucher (und damit auch Sie); deshalb lassen wir das Stück in einer abstrakten Podestwelt spielen, ohne rauschende Vorhänge, ohne Ausblicke in die Natur oder bauschige Sofas, auf denen entsagend Liebende seufzend in Ohnmacht sinken könnten. Sehr viel früher als Brecht haben sich schon Autoren wie Tieck das Verfremden des Gewohnten und Erwarteten einfallen lassen!! Man komme in keine rechte Illusion, so moniert einer der fünf. Ein Spiel mit der Identifikation und Brechen der Illusion, schon lange bevor es den Begriff des Epischen Theaters gab.
Tieck als Vor- Denker der Moderne
Gleichwohl fehlt es Tiecks Stück nicht an Tiefe, gar an tragischer Tiefe. Auch da ist er ein erstaunlich moderner Vorläufer, so etwas des Dramatikers Georg Büchner. Oder wie darf man die Sentenzen des Königs im Gespräch mit dem Hofgelehrten deuten, wenn er davon spricht, dass es ihn ängstige, wenn er an das Leere, das sinnlos Kreisende nicht nur der Himmelskörper, sondern auch seines eigenen Lebens denken muss? Wenn ihm die Entdeckung, dass es Antipoden unter seinen Füßen gibt, den Atem raubt. Wenn ihn die Angst vor existentieller Langeweile ergreift: Woyzecks Schritte hallen durch die Kulissen.
Sichtbarer Ausdruck des ironischen Prinzips, des Prinzips des Umwertens, Relativierens ist die Figur des Hanswurst, des Clowns, dessen Äußerungen im Grunde der tiefe Ernst weiser Einsicht eignet, auch wenn sein trauriges Gesicht anzudeuten scheint, wie sehr er um das Vergebliche seiner komödiantischen Angriffe weiß.
Tiecks beißende Satire auf das zeitgenössische Theaterpublikum, auf damalige Theaterautoren und -stücke äußert sich natürlich auch im Intertextuellen, und man möge sich ein Vergnügen daraus machen zu entdecken, in welcher Weise und in welcher Form die Großen der Literatur hier aufs Korn genommen werden, indem Zitate aus ihren Werken aufgegriffen, verballhornt, in neue Zusammenhänge gestellt werden. Zitate aus Schillers Tragödien, aus Goethes Faust, aus den Königs-Dramen Shakespeares. Manches versteckt, anderes ganz offen, so z. B. wenn die Schauspieler plötzlich den Spielplan verwechseln und die Zauberflöte Mozarts plötzlich auf der Bühne wabert. Oder eine desorientierte Tanzgruppe auf der Bühne auftaucht und alles im Chaos versinkt. Wir haben zudem, um das Vergnügen noch etwas zu steigern, auch noch das eine oder andere modernere Zitat eingestreut.
Theater im Theater, Theater um das Theater – ein Theater, von dem Schiller noch sagte, es sei so etwas wie die moralische Lehranstalt der Nation. Es wird bei Tieck keine Leeranstalt daraus, das nicht, aber ein Ort verwirrenden, oszillierenden, vergnüglichen Spiels um den Ernst des Lebens, von dessen komischer Seite die großen Komödiendichter seit Aristophanes immer zu erzählen gewusst haben.
Wolfgang Grüne