Friedrich Dürrenmatts "Die Physiker" - heller als tausend Sonnen
Robert Jungk veröffentlichte unter diesem Titel ein seinerzeit (in den fünfziger Jahren) äußerst erfolgreiches Buch, das Schicksale berühmter Atomforscher beschrieb – und nach eigenem Bekunden war die Lektüre dieses Buches für Friedrich Dürrenmatt einer der Anstöße, sein bis heute hochaktuelles und geniales Bühnenstück „Die Physiker“ zu schreiben.
Man kennt die Lebenswege derer, die an der Entwicklung der Atomtechnologie als Pioniere beteiligt waren. Viele dieser Biographien stehen unter dem massiven Eindruck dessen, was – beginnend mit der Kernspaltung durch Otto Hahn und seine Mitarbeiter- aus diesem Werkzeug in der Hand des Menschen wurde. Nicht nur Hahn hat sich in späteren Jahren damit auseinandergesetzt (so z. B. in der Göttinger Erklärung von 1957, in der berühmte Physiker – neben Hahn etwa Heisenberg, von Laue, Carl Friedrich v. Weizsäcker u. a.- vor einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr warnten). Andere übten Widerstand dadurch, dass sie – eigentlich in Diensten der westlichen Alliierten - Geheimnisse an die UdSSR weitergaben, nicht um des persönlichen Vorteils willen, sondern zum Ausgleich der Schreckensarsenale in der Hoffnung, keine der beiden vergleichbar gerüsteten Seiten werde es nunmehr wagen, die andere atomar anzugreifen (J. Robert Oppenheimer, Klaus Fuchs u. a.). Zweifel (gar Verzweiflung), Skrupel, aber auch Unangefochtenheit (z. B. E. Teller) charakterisieren diese Lebensläufe, deren fiktiv drei in ihrer Unterschiedlichkeit von Dürrenmatt auf die Bühne gebracht werden.
Jungks Buch erschien in einer Zeit, die gekennzeichnet war von der wachsenden Angst der Menschen vor einem Atomkrieg, vor gefährlichen Auswirkungen der unzähligen (damals noch oberirdischen) Atomtests, vor einer Technologie, die wie keine zuvor die Gefahr in sich zu tragen schien, sie könne der Kontrolle des Menschen entwachsen, der irgendwann die von ihm gerufenen „Geister“ nicht mehr loszuwerden vermöchte (wie in Goethes „Zauberlehrling“). Bezog sich das seinerzeit (auch während Dürrenmatt sein Stück schrieb) vor allem auf die militärische Nutzung der Atomkraft, haben sich in der heutigen Zeit die Gewichte verschoben, und viele beurteilen mit Skepsis u. a. die s. g. friedliche Nutzung der Kernkraft in unseren Tagen, wobei die militärische Bedrohung ja nicht etwa geschwunden ist.
„Was kann ich wissen?“ „Was soll ich tun?“
Dürrenmatt wäre nicht Dürrenmatt, wenn er das ohnehin schon komplexe Problem der Verantwortung des Menschen für die Folgen seines (wissenschaftlichen und politischen) Tuns nicht noch mit einer grundsätzlichen Kritik der menschlichen Erkenntniskraft verbände.
Die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers hatte neben andern schon Brecht in seinem „Leben des Galilei“ diskutiert. Brecht freilich, wenngleich auch er unter dem Eindruck des Hiroshima-Ereignisses stand und den ursprünglichen Schluss des Stückes nach dem 6. August 1945 modifizierte, blickte im Grunde nicht über den Rahmen seines positivistischen und geschichtsoptimistischen, der Dynamik des historischen Prozesses unterworfenen Weltbildes hinaus. Er sieht die Schuld am negativen Verlauf der Dinge im persönlichen Versagen des Individuums und knüpft den positiven Geschichtsgang an die mutige und kluge Entscheidung des Einzelnen. So gesehen versagt sein Galilei als ein „erfinderischer Zwerg“, den man – so Brecht – „mieten kann“; der Physiker werde der politischen Verantwortung nicht gerecht. Schon erstaunlich, wie ein marxistischer Autor wie Brecht meinte, Geschichtsverläufe seien in diesem Ausmaß von individuellen Entscheidungen abhängig, was Schiller seinen Helden interessanterweise nicht so zugemutet hat!
Dürrenmatt hingegen stellt sich diese Frage ganz anders. Er verknüpft die seit Aristoteles getrennten Wege der Erkenntniskritik und der ethischen Verantwortung des Menschen in einer dramaturgisch-theatralisch genialen Volte. Er schreibt gleichsam Kants Kritiken der reinen (Was kann ich wissen?) und der praktischen Vernunft (Was soll ich tun?) um:
Und so betritt der Zuschauer mit Inspektor Voß, dem Repräsentanten eines sich rational-logisch versichert wissenden Systems, das Irrenhaus, den idealtypischen Ort der Irrationalität. Hier erfahren Voß und der Zuschauer, dass die Kriterien, mit denen wir die Wirklichkeit zu sortieren pflegen, plötzlich nicht mehr funktionieren. Mord ist nicht mehr Mord, ein Mörder gilt plötzlich nicht mehr als ein solcher; aber Dürrenmatt treibt das Spiel viel weiter, das Spiel von Verwechslung, Scheinidentität, Verwirrung, Verunsicherung.
Das Spiel mit Täuschung und Verwechslung ist seit der Antike eine der ureigensten Besonderheiten der Komödie. Dürrenmatt freilich geht darüber hinaus: „Die Physker“ werden von ihm ausdrücklich trotz ihres ernsten Stoffes als „Komödie“ bezeichnet, bieten in der Tat auch schreiend komische Effekte, aber bei ihm ist die Komödie im Sinne seiner Theatertheorie die einzige Form, die einem immer unübersichtlicher werdenden Welt- und Gesellschaftsganzen als Abbildungsmedium gerecht zu werden vermag: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“. Die alte Tragödie hat (so Dürrenmatt) ausgedient, weil sie Überschaubarkeit, Schuld, Täter und Opfer braucht, die eine strukturierte Wirklichkeit voraussetzen. Uns Heutigen sei das Heft planenden Handelns, das seine Folgen abzuwägen vermag, aus der Hand genommen. Dies erstens deswegen, weil die Strukturen unsern Erkenntnismöglichkeiten über den Kopf gewachsen seien; zweitens aber, weil sie sich auch dem handelnden (gelingenden) Zugriff entzögen. Die inzwischen rund 200 Jahre seit den Versuchen Kants, Fragen nach Wissen und Handeln zu klären, Antworten zu geben – sie finden in dieser tragischen Komödie Dürrenmatts eine für den Schweizer typische Antwort: Was wir zu erkennen glauben, ist das Ergebnis struktureller Täuschungen; und wenn wir planvoll zu handeln vermeinen, gelingt uns das nicht, denn die „Verhältnisse sind nicht so“.
Der Imperativ des „Trotzdem“ im Werk Dürrenmatts
Der gleichwohl seinerseits auch so etwas wie einen kategorischen Imperativ findet: den des kontrafaktischen Handelns, des Agierens im Sinne eines „Trotzdem“, im Lichte einer humanen Widersetzlichkeit, deren moralischer Impetus sich nicht von der Unerfüllbarkeit seiner Ziele irritieren lässt. Denn obwohl die Situationen so finster sind, die Möglichkeiten erfolgreichen Einwirkens auf die Prozesses so gering scheinen, fordert Dürrematt auf, nicht resignativ und fatalistisch aufzugeben, sondern, wie er es nennt, „die verlorene Weltordnung in seiner Brust wiederherzustellen“. Und diesem Imperativ folgen etliche seiner Figuren, so etwa Bärlach („Der Richter und sein Henker“), Ill („Der Besuch der alten Dame“), Akki („Ein Engel kommt nach Babylon“) und eben Möbius, dem es am Ende gelingt, auch die beiden anderen Physiker in diesem Sinne zu verändern – auch wenn die Welt um sie herum eine andere geworden ist.
Hierin liegt, wenn man so will, Dürrenmatts Absicht; der Zuschauer, dem das Lachen des Anfangs im Halse stecken bleiben soll, darf nicht aufgeben; er soll diese Hoffung, die solches Handeln der Protagonisten wider den Anschein des Sinnlosen auslösen soll, aus dem Theater mit sich hinaustragen. Und das nicht im bitter-ernsten Tragödienton etwa Schillers, sondern durchaus auch beschwingt durch das Burleske einer Theaterform, die eben „Ernst macht mit der Komödie“ (W. Jens).
Wolfgang Grüne