Zu Friedrich Dürrenmatts: Der Besuch der alten Dame

Ernst gemacht mit der Komödie

Im 3. Akt seines 1956 geschriebenen Stückes, welches er selbst als Tragische Komödie bezeichnet, teilt Dürrenmatt in einer Regieanweisung mit, in welcher Weise und in welchem Ausmaß sich der Anblick des ehemals lausigen und erbarmungswürdigen Städtchens Güllen zu verändern habe:
(...) Diese Steigerung [findet] nun im Schlußbild ihre Apotheose. Die einst graue Welt hat sich in (...) Reichtum verwandelt, mündet in ein Welt –Happy - End ein. Fahnen, Girlanden, Plakate und Neonlichter umgeben den (...) Bahnhof, dazu die Güllener (...) zwei Chöre bildend, denen der griechischen Tragödie angenähert, nicht zufällig, sondern als Standortbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff, weit abgetrieben, die letzten Signale.
Raffgier und Korruption, glanzvoller Way-of-Life als Gegenstand der hohen Tragödie? Oder:
Dem Versinken der Titanic vergleichbarer Untergang als Thema der Komödie?

Uns kommt nur noch die Komödie bei

Dürrenmatt prägt in den Theaterprobleme[n] den berühmten Satz von einer Zeit und einer Welt, der nur noch die Komödie beikomme. Unermüdlich illustriert er als Dramatiker wie als Romanautor seine Wahrnehmung und seine Konzeption von Wirklichkeit - nicht nur in der Wahl der Stoffe, sondern auch oft in der Auswahl der Schauplätze, an denen seine „Helden“ zu agieren haben: So wählt er in seinem wohl berühmtesten Stück Die Physiker mit dem Irrenhaus einen Ort der Irrationalität schlechthin. Bewohnt wird es von drei Physikern, mithin Vertretern des rationalistischen Gegenbildes von Chaos und Heillosigkeit, in die uns Dürrenmatt immer wieder hinabführt. Schnell erkennt der Leser bzw. Zuschauer dieses spannenden und frappanten Stückes, wie gründlich sich Maßstäbe und Wegweiser verwirren und umkehren lassen. Am Ende sind nicht die nur vermeintlich Verrückten – deren planvolles Handeln gleichwohl scheitert - , sondern die Irrenärztin verrückt. Vertraute Kriterien für das Sortieren von Wirklichkeit vertrauten Fragerichtungen nach Wahr und Falsch bzw. Gut und Böse („Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun“ , z. B. bei Kant) sind - so jedenfalls teilt sich die Weltsicht des Friedrich Dürrenmatt mit - beliebig geworden. Das „Normale“ ist keine universelles Sein beanspruchende Größe mehr, sondern Ergebnis von Definitionen oder gedanklichen Zuordnungen, oder aber schlicht nur noch Ergebnis von Übereinkünften, so daß Bertrand Russel sagen kann: „Der Wahnsinnige, der sich für ein Rührei hält, ist nur deswegen abzulehnen, weil er in der Minderheit ist.“ Das Lachen der Komödie in seiner subversiven Qualität verdrängt den kritischen Diskurs; der Kampf, den in unseren Tagen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas ausfechten, ist nur eine neue Variante dessen, was uns auch in Ecos Der Name der Rose in der Auseinandersetzung zwischen William von Baskerville und Jorge von Burgos schon begegnet ist.

Fragiler Konsens

Wie oft ein solcher Konsens nicht nur konventionsabhängig, sondern durchaus fragil ist, zeigt der Verlauf der Handlung in Der Besuch der alten Dame. Schnell zerbricht das Pathos, mit dem im ersten Akt der Bürgermeister den ungeheuren Korruptionsvorschlag der Claire Zachanassian scheinbar sakrosankt zurückweist:

Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.

Dem laut Textbuch Riesige[n] Beifall muß Claire nur knapp ihr Ich warte entgegensetzen, weiß sie doch, daß die hier beschworenen hehren Werte des Abendlandes in einer Welt, die Vorteil und Profit ausschließlich im persönlichen Heil und Spaß sieht, von nur kurzer Halbwertszeit sind. Mag in den Worten des Bürgermeisters die Patina von Aufklärung und Humanität mitschwingen – sobald mit Claires Ich warte das Spiel beginnt, werden wir Zeuge einer fortschreitenden Zerstörung aller Wertungs- und Wertkriterien, mit denen der Mensch in der Lage ist, Ordnung zu entdecken bzw. zu stiften. Dürrenmatt wäre nicht Dürrenmatt, verzichtete er in Der Besuch der alten Dame auf das für sein poetisches Credo typische Umstoßen der Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie. Eine Zeit, in der eine Milliarde ausreicht, um die Spuren des Christentums, der Aufklärung, der Humanität usf. auszulöschen, ist dem Schweizer nicht mehr in der Form der Tragödie darstellbar. Sie nämlich setzt feste Systeme voraus. Der kollektiven Unterhöhlung der Gewißheiten und der Moral entspricht Dürrenmatts Verfahren, Pathos und Ernst in Komik und Burleske umschlagen zu lassen.

Wie behauptet sich ein reiner Mensch?

Und so macht Dürrenmatt Ernst mit der Komödie, wie Walter Jens dies so treffend benannt hat. Und mit Blick auf Ills Schicksal formuliert er , daß wie so viele große Künstler auch Friedrich Dürrenmatt nur ein einziges Thema habe: Wie behauptet sich ein reiner Mensch in einem Äon des Chaos, der Heuchelei und der Macht?

Jens‘ über 40 Jahre alte These mag heute überpronociert erscheinen, stellt uns aber die Tatsache vor Augen, daß in Dürrenmatts Werken tatsächlich immer wieder auch Menschen auftreten, die mit einer letztendlich den Lauf der Dinge nicht verändernden oder aufhaltenden moralischen Kraft humaner Widersetzlichkeit einen Fixpunkt schaffen, von dem aus die Welt sich noch einmal in der ursprünglichen Geschiedenheit von Hell und Dunkel darstellt (Jens).

Diese „Helden“ – etwa Bärlach (in den beiden Romanen „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“, Möbius („Die Physiker“), Akki („Ein Engel kommt nach Babylon“) – sind – so Dürrenmatt (in Theaterprobleme) – mutige Menschen, in deren Brust (...) die verlorene Weltordnung wiederhergestellt werde. Sie retten ihre Welt nicht, wissen aber, daß es kein Kapitulieren geben darf.(...) Nichtverzweifeln(...), die Welt zu bestehen –darin könnte eine Antwort dieses mutigen Menschentyps bestehen.

Und Ill? Eines entgeht mitunter dem Betrachter der Stückes: Trotz seines Versagens, seiner Schuld – am Ende sieht Dürrenmatt in ihm den, der der moralischen Dekonstruktion Güllens und seiner Bewohner durchaus entgegentritt. Ein reiner Mensch also ? Sicher nicht! Aber die Figur im Drama, die den Schritt zu jenem Punkt, von dem aus die Welt sich noch einmal in der Geschiedenheit von Hell und Dunkel darstellt , in der Akzeptanz ihrer Schuld und Sühne vollzieht.

Wolfgang Grüne