Die Schaubühne - eine moralische Anstalt?

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SchiIler spricht der Schaubühne die Fähigkeit zu, daß am ehesten durch sie Vernunft und ethische Werte den Menschen nahegebracht werden könnten, daß sie Orientierungshilfen anbiete und daß sie den Menschen Einblick in tiefe Schichten der menschlichen Psyche gewähre.

Zwar ist er davon überzeugt, daß ein aufgeführtes Drama weder sofort gesellschaftliche Verhältnisse umstoße noch direkten Einfluß auf das Individuum nehme. Das Drama müsse, um dies zu erreichen, auf ohnehin schon absolut vernünftige Menschen treffen, die sich auch unbedingt belehren lassen wollten.

Doch Schiller meint, daß das Theater dem Zuschauer die Realität, daß es Schlechtigkeit gibt, vergegenwärtigen könne und daß es zu Gegenwirken oder Duldung herausfordere. Sieht z.B. ein Mensch, wie in seinem Gesellschaftssystem mit anderen Menschen verfahren wird, was ihm zuvor entgangen war bzw. was er verdrängte, so erkennt er, daß er eine Position zu dieser Wirklichkeit finden muß. Will er gegen schlechte Zustände oder Menschen vorgehen, kann ihn das Drama nach Schillers Auffassung sowohl Systematik als auch die gesellschaftlichen Ursachen und Tendenzen derselben begreifen lassen. So kann ja z.B. ein Adliger in der Aufführung einen Monolog halten, in dem er über die Dummheit seiner Untertanen sinniert und sich über ihre Gefügigkeit lustig macht.

Das Drama kann aber auch die Erfahrung bieten, daß es Zufälle bzw. Schicksale gibt, denen der Mensch sich nicht entziehen kann. Hat er in einer Aufführung ein Schicksal "mitgelebt", fällt es ihm möglicherweise leichter, sein Los zu ertragen, wenn ihm ähnliches widerfährt. Diese Erfahrung kann aber auch eine Aufforderung sein, sich nicht in sein Schicksal zu ergeben, sondern es zu meistern; Schiller spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von "Zuwachs an Mut und Erfahrung". Der vielleicht größte Gewinn für den Menschen ist es, wie Sclliller denkt, den Menschen mit den Menschen bekannt gemacht zu haben. Die Akteure auf der Bühne in ihrer Verstrickung in persönlicher Erfahrung, Geschichte und sozialem Umfeld zu sehen, ermöglicht dem Zuschauer eventuell Einsicht in und Verständnis für die Handlungsweisen der Menschen, die er dann in seinen Alltag übertragen könnte und sich und seine Mitmenschen nach neuen Maßstäben beurteilen kann. So kann das Theater Toleranz vermitteln. Schiller meint diese Wirkung schon zu erkennen: "Menschlichkeit und Duldung fangen an, der herrschende Geist unserer Zeit zu werden."

Schillers Drama "Kabale und Liebe" wird dem Anspruch, "das Laster bekannt gemacht zu haben", in der Zeit der ersten Aufführungen mit Sicherheit gerecht. Denn er prangert den Verkauf von 7.000 Hessen, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unfreiwillig Einsatz finden sollten, durch den Herzog an England an, indem er aufzeigt, wie der Herzog mit dem Gewinn aus dem Menschenverkauf, durch den er Familien zerstört und seine Untertanen zu Sachbesitz degradiert hat, seiner Mätresse Juwelen schenkt. Dies wird die Zuschauer sicherlich bewegt und Empörung hervorgerufen haben.

An anderer Stelle greift er dieses Untertanenbild erneut an, als der Präsident die Liebe Ferdinands zu Luise als rein sexuelles Verhältnis abtut, indem er sagt: "Aber er bezahlte sie doch jederzeit bar?" Nach Ansicht des Präsidenten hat sich Ferdinand zu seiner Befriedigung eine Geliebte genommen, was er im Gespräch mit Wurm für durchaus gewitzt hält, da er sie durch Vorspiegelung solider Absichten gewonnen habe. Auch diese Ignoranz höherer Werte, die im höfischen Leben keine Gültigkeit zu haben scheinen, wird das Publikum gegen den Hof aufgebracht haben. Sie zeigt deutlich das primitiv-boshafte Denken des Präsidenten, womit Schiller auch die Einstellung "der Lasterhaften" darstellt.

Das Glück der Gesellschaft wird ebensosehr durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört. (...) Die Schaubühne ist es, die der großen Klasse von Toren den Spiegel vorhält und die tausendfachen Formen derselben mit heilsamem Spott beschämt.

Die Intrige, die Wurm entwickelt und die Tragik des Stücks hervorruft, zeigt den "Plan" des Bösen; diese Entwicklung war nicht vom "Zufall" bestimmt. So mag auch die Zuspitzung des Konflikts zum Schaden für alle Beteiligten die Zuschauer empört haben und ihnen als Bürgern gezeigt haben, daß sie sich dem Ränkespiel des Hofes entgegenstellen sollten. Am besten gelungen ist Schiller meiner Meinung nach das Verständnis für die Handlungsweisen der Menschen aus ihrer persönlichen Geschichte heraus zu fördern. Das Paradebeispiel hierfür ist Lady Milford. Sie, die zunächst nur billige Geliebte des Herzogs zu sein scheint, entpuppt sich nach und nach als Frau, die im Konflikt zwischen ihrem Status bei Hofe, den sie in sozialer Not und aus Sehnsucht nach dem Glück ihrer Kindheit gewählt hat, und Ehrgefühl steht, die versucht hat, den Herzog zum Guten zu bewegen, aufgrund ihrer Position aber vieles an Unheil nicht realisieren und daraufhin verhindern konnte. Die Lady Milford begreift schließlich das System und die Schändlichkeit des Hofes und zieht die Konsequenz, ein ehrenhaftes, bürgerliches Leben zu führen. Da diesem Entwicklungsprozeß von Schiller viel Raum gegeben wird, nehme ich an, daß die Zuschauer die Persönlichkeit der Lady verstehen und erkennen konnten, daß zur Beurteilung einer Persönlichkeit die Kenntnis von deren Geschichte vonnöten ist.

Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. (...) So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstab' und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.

Ich möchte Schiller zustimmen, wenn er sagt, daß das Drama zwar keine direkte Veränderung der Zuschauer erbringt, aber zumindest einen Eindruck und ein Mitfühlen erreichen konnte, welches für die Charakterbildung ein Gewinn sein kann. Dem Publikum zu Schillers Zeiten wird dieses Drama besonders nahegegangen sein, da es auf aktuelle Zustände bezogen ist, diese aber genauer, mit mehr Einblicksmöglichkeiten in die Menschen darstellt.

Die Wirkung dieses Dramas in heutiger Zeit ist schwerer zu bestimmen. Die angegriffenen Zustände und Handlungen historischer Art liegen nach heutigen Maßstäben weit zurück. Doch dient das Theater vielleicht gerade heute weniger der Belustigung als der Auseinandersetzung mit dem gebotenen Stoff, da schlichte Unterhaltung inzwischen durch andere Medien preiswerter und bequemer geboten wird. Die gesellschaftlichen Konflikte mögen antiquiert erscheinen, die Definitionen von Persönlichkeit und Glück, bei Schiller bürgerliche Bescheidenheit im Gegensatz zur materiellen Oberflächlichkeit des Hofes, könnten auch heute noch von Bedeutung sein.

Jörn U. Bachem