"Uns kommt nur noch die Komödie bei"

Die Theaterkonzeption des Friedrich Dürrenmatt

In Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Theater nimmt die Beziehung zwischen Theater und Wirklichkeit eine zentrale Stellung ein. Dürrenmatt stellt fest, daß diese sich gewandelt habe, woraus sich die Frage ergebe, ob sich auch die Welt ganz oder teilweise geändert oder ob sich das Theater lediglich der geschichtlichen Wandlung der Sichtweise von Wirklichkeit angepaßt habe. Mit der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Sichtweise treibt Dürrenmatt seine paradoxe Bemühung in verschiedenen Auslassungen über sein Theaterkonzept. Wie der Stil im Theater habe sich auch das Tragische in der Wirklichkeit gewandelt. Sei der Stil zu einem rein persönlichen geworden, so habe andererseits sich das tragische Element vom Individuellen zurückgezogen.

Rückzug des tragischen Helden

Manifestierte sich früher die gestaltete Wirklichkeit des Kosmos formal im Stil und inhaltlich im jeweiligen tragischen Helden. so habe sich das Individuum heute formal auf das Experiment in der Kunst zurückgezogen und als tragischer Akteur in der Wirklichkeit aufgelöst. Die tragische Wirklichkeit sei "unüberschaubar, anonym, bürokratisch" geworden: Wallenstein als konkretes Machtzentrum sei nicht mehr zu vergleichen mit Hitler oder Stalin, deren Macht einem abstrakten Apparat verfallen gewesen wäre, wie auch die physische Welt von einer anschaulich bunten, dynamischen Götterwelt zur Kristallisation der Weltformel in Dürrenmatts "Physikern" erstarrt. In der Vereinigung von Sein und Bewußtsein - in der Physik statt in der Kunst - entsteht die absolute Form, die alles verschmelze, dadurch aber Distanz auflöse, jede Gestaltung als Wiederholung von Konkretem zerstöre.

Der Mensch ändere heute nicht mehr die Sichtweise, d.h. seine kollektive Wirklichkeitsinterpretation, sondern er sei zum kollektiven Beherrscher der Realität geworden, wodurch diese ihren gestaltet-haltgebenden Charakter aufgebe und somit jede Interpretation in der Kunst ihren Sinn verliere.

Hätten früher Einzelne Macht ausgeübt, die verändert habe, so sei die Interpretation im übergreifenden Stil der Kunst ein bewahrender Spiegel des Kosmos gewesen, in dem sich diese Verstrickten als tragische Helden dargestellt hätten. Dagegen bestimme heute ein diffuses, unpersönliches System die Wirklichkeit, und diese verliere in ihrer Gestaltlosigkeit die Möglichkeit, in der Kunst allgemeingültig abgebildet zu werden. Stattdessen sei Kunst zum Halt, zum verändernden Eingriff des Einzelnen geworden.

Um im Chaos das Gestaltete zu finden, sei es anachronistisch. in die Welt einzutauchen, bis sich die Gesetze des Kosmos darin enthüllen, daß man als tragischer Held mit ihnen in Widerspruch gerät, sondern es komme eben gerade auf die Schaffung von Distanz an, um am Horizont des Seins die Gestalt des vermeintlich Chaotischen zu erblicken.

Diese Distanz bewirkt nach Dürrenmatt die Komödie.

Schuld und Schuldfähigkeit im Zeitalter der Unüberschaubarkeit

In enger Verbindung mit Komödie und Tragödie untersucht Dürrenmatt das Problem der Schuld und der Schuldfähigkeit: Diese sei im Zeitalter der Unüberschaubarkeit nicht mehr vorhanden. Das Unsystem des Verblendungszusammenhangs kennt keine Schuldigen und Verantwortlichen mehr. Wird aber die Möglichkeit der Verschuldung nicht mehr durch eine umfassende sittliche Ordnung gewährleistet, so stimmt Dürrenmatt für eine moralische Weltansicht, die jeder in sich selbst aufbauen und dem äußeren Chaos entgegensetzen soll.

Die Komödie ist eine Antwort auf die Welt mit dieser Motivation. Unsere Maßstäbe werden hier als unzulänglich erhellt, doch das Resultat muß nicht Verzweiflung sein, sondern es ist ein auch tragisches TROTZDEM auf der schwebenden Grundlage des Paradoxen. Kunst und Welt haben im Paradoxen ihren Angelpunkt, und nur dort hat die Kunst eine Möglichkeit, die Welt durch Distanzierung erfaßbar zu machen - nicht durch Abspiegelung, sondern durch den leeren Spiegel des Paradoxen, der damit die abgründige Tragik zeigt, in der wir leben.

Was Dürrenmatt hier charakterisiert, die beiden möglichen Ansichten von Realität und Schuld, entspricht den geschichtlichen Sachverhalten, jedoch nicht in der von Dürrenmatt beschworenen Einmaligkeit: Beide Situationen folgen einander in dauerndem Wechsel.

Immer wieder wurde die Beziehung zwischen Ethik und Physik (Geist und Materie) im abendländischen Denken thematisiert.

Dürrenmatts kategorischer Imperativ des TROTZDEM

Das Ziel heißt, vor dem Gestaltlosen nicht zu kapitulieren und sich innerlich über die Verstrickheit zu erheben, um nach außen dem Chaos im jeweils eigenen Ausschnitt entgegenzuwirken: Das Teil muß bereit sein, mehr als das Ganze zu werden, sollte sich dieses als Nichts erweisen. Zwar entzieht sich so "das Allgemeine dem Zugriff", aber nicht der Einwirkung.

Schuld entsteht hier natürlich nicht mehr aus den Handlungsfolgen, die weder überschaubar noch kalkulierbar sind (und waren!), sondern aus der Handlungs- wird eine Gesinnungsethik, die einer Garantie des bleibenden Sinns der Totalität aller Folgen der Handlung nicht bedarf. Schuld geht so nicht aus der Konfrontation mit dem Kosmos, dessen Verfügbarkeit zweifelhaft bleiben muß, sondern mit dem Gewissen hervor, weil es über das Wissen (vom Kosmos) hinausreicht.

So wird auch das sich wirklich in der Geschichte konstant Wandelnde als ethischer Faktor ausgeklammert: Die zunehmende Trennung zwischen Täter und Opfer, ja die Verwischung der Grenzen beiderdurch die Technik und die Abstraktion des Apparates.

Ursache und Schuld fallen folglich wieder in der Gesinnung des handelnden Subjekts zusammen. Täter und Opfer bilden im kategorischen Imperativ der inneren Weltordnung eine ideelle Einheit. Daher werden Sichtweise und Wirklichkeit wieder geeint - unabhängig von ihrer 'tatsächlichen' Korrelation -, weil das paradox-antizipatorische Denken bestimmt, was 'tatsächlich' ist ... und dieses verwirklicht.

In der Einleitung dieses Prozesses, der Distanzierung, liegt die Bedeutung der Komödie heute und des Theaters.

Boris Kositzke