Shakespeares Hamlet: Das Spiel mit dem Spiel
Shakespeares wohl 1601 entstandenes Stück ist dem Titel nach vermutlich eines der bekanntesten, wenn nicht das bekannteste Stück der Theaterliteratur überhaupt, umrankt von einem strahlenden Nimbus, von erhabener Weihe, die oft genug den Blick auf die Substanz des Dramas, seine Bedingtheit und Bedingungen, aber auch seine geniale archetypische Zeichnung wesenhafter menschlicher Existenzformen eher verstellt hat.
Hier sei nicht die Rede von eintragreichen literarhistorischen Überlegungen zu mythologischen oder literarischen Traditionen, in die sich Shakespeares "Hamlet" auch stellen läßt; wichtiger für diese kurze Eingangsbetrachtung sei hier, auch in weitgehender Absehung von der historisch-politischen Ebene des Dramas, die bestimmte gesellschaftliche Prozesse darstellt und reflektiert, die individuelle Ebene der Figur des Dänenprinzen, die Hamlets Psyche, seine Handlungs- bzw. Handlungsunterlassungsmotive als die eines verblüffend modernen Menschentypus' und mithin in seiner über individuellen Bedeutung fassen läßt.
Illusion und Illusionsbrechung im Elisabethanischen Theater
Zu den Wesensmerkmalen des Elisabethanischen Theaters, bedingt auch durch seine medialen Voraussetzungen, die eben ganz andere waren als die der uns auch heute noch eher vertrauten Bedingungen des Illusionstheaters der Guckkastenbühne, zählt die Tatsache, daß es weder ein perfektes illusionsförderndes Bühnenbild noch ein in ähnlicher Weise wirkendes Bühnenlicht - bei abgedunkeltem Zuschauerraum - gab; ist man gezwungen, in abstrakter Kulisse zu spielen (was als Hinweis auf heutige Aufführungspraxis dienen könnte), so ist das Drama um so stärker auf seinen Ursprung, nämlich die Sprache und deren Bildkraft verwiesen. Gleichzeitig aber kommt es zu jener, uns heute durch moderne Bühnenästhetik wIeder neu ins Bewußtsein gerufenen eigentümlich. schillernden Wechselbeziehung zwischen Illusionsbildung und Illusionsbrechung, Darstellung und Dargestelltem, (vermeintlicher) Wirklichkeit und Spiel mit ihr. In unserem Zusammenhang sei hier nur knapp auf die Funktion mancher ins Publikum gesprochener Sentenz verwiesen (etwa in Äußerungen des Polonlus, aber auch in den berühmten Monologen Hamlets) oder auf die dem grauenhaften Schlußauftritt vorausgehende Totengräberszene. Dieses Spielen mit Schein und Sein, seit der Antike ein Uranliegen eigentlich der Komödie, ist nun aber auch in dieser Tragödie gleichsam als ästhetischer Bedingungsrahmen eines um vieles existentielleres Spielens mit Schein und Sein verstehbar, das Hamlet, dieser frühe Typus des gelangweilten Lebensspielers, spielt.
Ein Hamletbild jenseits von »Wilhelm Meister«
Denn nicht nur (wenn überhaupt) persönliche Schwäche, Weichheit, lähmende moralische Entrüstung in einer Welt amoralischen Austragens politischer Machtkämpfe sind ein Schlüssel zum Verständnis der Frage, weshalb Hamlet - im Gegensatz zu seinen handelnden Spiegelbildern Fortinbras und Laertes - nicht handelt, den Tod seines Vaters nicht rächt. Zieht man seine Äußerungen und sein Verhalten - wobei eigentlich nur seine Beziehung zu Horatio eine Ausnahme bildet -in Betracht, so ergibt sich folgendes Bild: das des Ironikers (der ständig in andere und sich selbst hineinfragt, oft mit jener Skepsis, die eine Form radikalen in-Frage-Stellens ist), das des Lebensspielers (der das Spiel der Verantwortung vorzieht), das des reflektorisch sich selbst Lähmenden (weil erst des Menschen Fähigkeit zur Reflexion ihn dem Leid und der Verzweiflung anheimfallen läßt), das des Verächters all dessen, was ihn umgibt (dessen, was seine unvereinnahmbare Individualität, die zu schützen er sich abkapseln muß, bedroht), das des Einsamen (der aus dieser Welt gestellt ist und sie angewidert betrachtet), das des Gelangweilten (der nichts so fürchtet wie Gewöhnung, die jedem Spiel oder jeder Sensation (sei es im Spiel mit Ophelia oder im Spiel mit den hohlen Hofschranzen wie Osric) folgen muß), das des Verzweifelten (der sich den Tod wünscht als einzigen Schritt aus diesen Kreisläufen ("Zu fest, zu fest dies Fleisch"; "Sterben, Schlafen / Nicht mehr; wit sagen Schlaf, um so zu enden / Das Herzweh und des Lebens tausend stöße, / Die Fleisches Erbteil sind".) .
Hamlet als Ahnenfigur moderner Bühnenhelden
Verblüffend, wie hier die Schreie der Helden Schillers, Büchners, Dostojewskijs und Camus' geschrien werden, wie hier einer der Ahnen Franz Hoors und Nikolaj Stawrogins im Gewand einer Figur auftritt, der zwar nicht die brutale Amoralität der Genannten (im Gegenteil!) eignet, die aber ebenso weit entfernt ist vom Bild, das Goethe seinen Wilhelm Meister entwerfen läßt: der reinen, großen, wenngleich überforderten Seele. Und verblüffend, wie ein solcher Hamlet gar Becketts Menschen des Absurden hinter sich läßt ("Wir finden doch immer was, um uns einzureden, daß wir existieren, nicht wahr?"), läßt Shakespeare ihn doch auf Polonius' Frage ("Was lest Ihr da, mein Prinz?") voller Mißtrauen und Illusionslosigkeit gegen das Sprechen antworten: "Worte, Worte, Worte". (II. Akt)
Gibt es da noch einen großartigeren Schluß des Dramas als Hamlets letzte Worte?
Wolfgang Grüne