Lebens-Werk zwischen Wahn und Wirklichkeit

Stoff für eine Komödie

Im Oktober 1635 schreibt Gogol' an Puschkin: "Tun Sie mir den Gefallen und liefern Sie mir irgendeinen Stoff - sei er komisch oder auch nicht; aber eine echt russische Anekdote muß es sein. Mir zittert die Hand - so sehr möchte ich jetzt eine Komödie schreiben."

Puschkin tut ihm den "Gefallen" und berichtet ihm, wie er (Puschkin) in Niznij Novgorod (dem heutigen Gorki) einmal fälschlicherweise für eine bedeutende politische Persönlichkeit gehalten worden war. Gogol's "Komödie" wird zu einer der berühmtesten der Weltliteratur, gerät zur beißend-boshaften Satire auf Unfähigkeit, Bestechlichkeit und kleinmütigen Egoismus, zur grandios grotesken Entlarvung der Verletzbarkeit und Disponibilität von Urteil und Einsicht. Auch zur politischen Abrechnung? Gogol' selbst macht es uns schwer, hat er doch im Laufe seines Lebens mehrmals Deutungen seiner Komödie gegeben, die in ihrer rätselhaften Widersprüchlichkeit tiefer vielleicht als das am 19.4.1836 am Kaiserlichen Theater in Anwesenheit von Zar Nikolaj I. uraufgeführte Drama seine eigene Lebenssituation widerspiegeln.

Der erste moderne Dichter Rußlands

Nikolaj Vasil'jevic Gogol' wurde am 1. März 1809 als Sohn einer ukrainischen (russisch sprechenden) Gutsbesitzerfamilie kosakischer Herkunft in Sorocincy im ukrainischen Gouvernement Poltawa geboren. Nach Abschluß der Schulzeit ging er 1828 nach Sankt Petersburg, um dort eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen, schied nach kurzer Zeit aus dem Dienst aus und wurde Lehrer an einer Anstalt für Höhere Töchter. In diese Zeit fallen die ersten literarischen Versuche; seine bereits in die Hauptstadt mitgebrachte Erzählung "Hans Küchelgarten" wurde von der Kritik verrissen. Gogol' kaufte die Auflage auf und verbrannte die Bücher - nicht zum letzten Mal sollte er ein eigenes Werk vernichtet haben.

Dennoch: Er erwarb sich allmählich wohlwollende Aufmerksamkeit und Unterstützung, zunächst in Literatenkreisen; durch Empfehlung Puschkins erhielt er 1834 sogar die Stelle eines Geschichtsprofessors der Universität. Zu diesem Zeitpunkt lagen schon etliche Arbeiten des Mannes vor, den man später zu Recht den ersten modernen Dichter Rußlands genannt hat: Erzählungen, die unübersehbar bereits Elemente nicht nur des Fantastischen, sondern auch des Grotesken und des Horrors aufweisen; die Verschiebung des Normalen, des Alltäglichen, des Gewohnten, des vermeinten Wirklichen ins grotesk verzerrt Unnormale, Fremde, Wahnhafte, allseits Verunsichernde und Orientierungsraubende - so z. B. in den Prosawerken "Nevskij Prospekt" und "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" (1835) zeigt seine Verwandtschaft zu einigen Vertretern der europäischen Romantik (z. B. Bonaventura, E.T.A. Hoffmann, Jean Paul) und erweist ihn als einen lange vor deren Originalitätsgeschrei aufgetretenen Propheten der Postmoderne. In dieser Zeit schrieb Gogol' seinen "Revisor". Die Publikumsreaktion nach der Premiere war außerordentlich. Gogol' war über die dezidiert politische Deutung seiner Komödie entsetzt und verließ Rußland. In der Folgezeit hielt er sich vor allem in Rom auf und schuf dort seinen meisterhaften Roman "Die toten Seelen". Nach und nach verfiel er in religiöse Wahnvorstellungen und vollzog und artikulierte politische Kehrtwendungen, die ihm zuletzt die verbitterte Feindschaft ehemaliger Freunde einbrachte. Immer stärker spann er sich in einen Kokon übersteigerten religiösen Wahns; kurz vor seinem Tod verbrannte er den zweiten und dritten Teil seiner "Toten Seelen" und starb infolge der durch seine Wahnideen motivierten Askese und Verweigerung jeglicher Nahrungsaufnahme bedingten Auszehrung am 21.2.1852 in Moskau.

Virtuose Namensallegorik

Gogol 's "Revisor" erwächst aus der russischen Komödientradition (vgl. vor allem Gribojedows "Verstand schafft Leiden") ebenso wie er Positionen des klassischen europäischen Dramas verpflichtet ist - Wahrung der drei Einheiten, Konzentrat ion der Handlung und Zuspitzung zu kumulativer Fallhöhe u. a. m. Die Kunst der Namensallegorik hat er nicht erfunden, gibt es sie doch schon bei seinen Vorgängern (Gribojedow) ebenso wie bei seinen Zeitgenossen als auch bei seinen Nachfolgern (z. B. Ostrovskij) und Vertretern anderer literarischer Gattungen; so finden sich in fast zu reichem Maße sprechende Namen (etwa in "Schuld und Sühne") bei Dostojevskij. Gleichwohl ist Gogol's Namenskunst besonders originell:

 

Skvoznik-Dmuchanovskij, wohl vom russ. Adverb "skvoz" gebildet (durch, hindurch); der Name läßt an einen rücksichtslosen Emporkömmling denken.
Luka Lukitsch Chlopov: hier denkt der russische Zuschauer an "Luk" (Zwiebel) und an das Verb "chlopat'" (knallen, klappen).
Ljapkin-Tjapkin - vgl. die Verben "ljapat" (pfuschen) und "tjapat" (fassen, an sich bringen).
Zemljanika heißt wörtlich "Erdbeere".
Chlestakov läßt Assoziationen an das Verb "chlestat'" (züchtigen, prügeln) zu.
Bobtschinskij ("bob" = Bohne) und Korobkin ("korobka" = Schachtel) werden freilich von der Komik der Polizistennamen übertroffen, die man etwa mit Ohrdreher, Pfeifling und Haltsmaul übersetzen könnte.

Die Träger dieser Namen sind freilich weder typisierte Inkarnationen menschlicher Schwächen - wie bei Moliére - noch reine Karikaturen; im Gegenteil - Gogol' empfahl den Schauspielern zurückhaltendes Spiel bei der Zeichnung dessen, was in seinen Figuren angelegt war: Groteske überzeichnung einzelner - negativer - Charakter- bzw. Persönlichkeitsmerkmale und der Verlust bzw. die Überlagerung positiv bewertbarer Eigenschaften vor dem Hintergrund einer zur Posse verzerrten Narrenkulisse, die wie geschaffen scheint zur Demonstration der Demontage des Vertrauten, der Identitätsverwechslung, der alle Figuren der Komödie zum Opfer fallen, auch und vor allem Chlestakov, der der Ärmlichste unter all den Mittelmäßigen, Geistlosen, Kulturlosen, Würdelosen ist - ist er doch die Person mit der geringsten authentischen Persönlichkeit, alles andere als der Held des Geschehens, der die Rolle des überlegen Entlarvenden spielen könnte (nach einer Äußerung Gogol's ist der einzig positive Held des Stückes das Lachen des Zuschauers). Chlestakov ist in großartig gogolesk grotesker Steigerung Marionette und Marionettenspieler zugleich, kein Lügner aus Bosheit und Berechnung, sondern ein Schwindler, der dem eigenen Schwindel erliegt.

Das Spiel von Sein und Schein als Anlaß und Anliegen der Komödie

Dieses Spiel mit und vom Austauschen und Verwechseln von Identitäten, von Anspruch und Einlösung, von Lüge und Wahrheit, von Illusion und Gewißheit ist einer der archetypischen Anlässe und Anliegen der Komödie - von Aristophanes bis hin zu ihrer schauerlichen Apokalyptik in den Meisterkomödien Dürrenmatts. Im Gegensatz etwa zum Autor der "Physiker" war Gogol' freilich kein politisch Denkender oder gesellschaftlicher Analytiker. Überrascht, ja erschrocken war er von der Reaktion des Premierenpublikums ."Man beginnt nun" so schreibt er später (1847) an Zkovskij, "in meiner Komödie die Absicht zu sehen, die gesetzliche Ordnung der Dinge und die Regierungsformen dem spott preiszugeben, während ich damals doch nur das selbstherrliche Abweichen einiger eben von dieser formalen und gesetzlichen Ordnung verspotten wollte". Gogol' macht es uns mit einer Deutung seiner Absichten nicht leichter, wenn er im selben Brief bekennt, er habe sein Stück in der Absicht geschrieben, einen positiven Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben und "alles üble in Rußland in einem Punkt" zusammenzufassen. Noch schwieriger wird das Rätseln, nimmt man seine 1846/47 in Form eines Dialoges der Schauspieler nach der Aufführung des Stückes gefaßte Allegorese des eigenen Werkes hinzu. Hier bestreiten Gogol's Figuren einen unmittelbaren gesellschaftlichen Nutzen und die politische Notwendigkeit des Stückes. Und man vernimmt, daß es eine Stadt, wie sie im "Revisor" gezeigt werde, gar nicht gebe; sie stelle vielmehr "unsere seelische Stadt" dar, die "sich bei jedermann festgesetzt" habe, wobei die dramatis personae Leidenschaften und Impulse eines jeden seien; der echte - am Ende auftretende - Revisor sei "unser erwachtes Gewissen, das uns zwingen wird, uns mit unbestechlichem Auge von Kopf bis Fuß zu betrachten".

Eine solche Deutung brachte Gogol' nicht nur erbitterte Feindschaft, sondern generell Unverständnis und Kopfschütteln ein - bis heute.

In dieser Konfrontation mit Mißdeutung und Umdeutung (?) durch die Rezipienten findet er vielleicht eine Parallele zu einem seiner berühmten Nachfolger: Charles Chaplin. Auch er hat oft darüber geklagt. Und dessen Motto zu einem seiner beeindruckendsten Filme ("The Kid", 1921) hätte - in anderer Form - auch Gogol' für seinen "Revisor" gewählt haben können:

"Ein Film mit einem Lächeln - und vielleicht mit einer Träne."

Wolfgang Grüne